Vor rund zwei Jahren habe ich hier im Sofagarten die Buchvorstellung «Ein Garten über der Elbe» von Marion Lagoda mit dem folgenden Satz angefangen: «Dieser fiktive Roman, der sich am Lebenslauf von Else Hoffa, der ersten Obergärtnerin Deutschlands orientiert, beginnt mit einem Prolog – Hedda kehrt viele Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs nochmals zurück in den Garten über der Elbe in Hamburg Blankenese, aus welchem sie vor Kriegsbeginn als Halbjüdin nach England geflüchtet ist und sich dort eine zweite Gärtnerkarriere aufgebaut hat. Von der ursprünglichen Pracht des Gartens über der Elbe sind nur Teile übriggeblieben, aber die Erinnerungen an die mediterrane Terrasse und an Hecken nach italienischen Vorbildern sind noch präsent.»
Die Lebensgeschichte von Else Hoffa ist auch in den Roman «Flusslinien» von Katharina Hagena eingeflochten und sorgt damit für einen für Sofagärtnerinnen spannenden hortikulturellen Hintergrund. Über einen Zeitraum von knapp zwei Wochen gibt der Roman aus Sicht der drei wichtigsten Figuren Margrit Raven, Luzie und Arthur Einblick in deren Gegenwart und Vergangenheit.
Die achtzehnjährige Luzie hat die Schule kurz vor dem Abitur geschmissen und wohnt gerade heimlich in einer DLRG-Hütte an der Elbe. Anlässlich eines Auslandschuljahres in Australien hatte sie ein traumatisches Erlebnis, aufgrund dessen sie in Therapie war und nun als geheilt gilt. Doch was heisst schon geheilt? Über die Ursache für die durch das erlittene Trauma einhergehende Persönlichkeitsveränderung hat Luzie mit ganz wenigen Menschen offen geredet, und überhaupt vermeidet sie soziale Kontakte, wenn immer möglich. Ihre familiären Strukturen bieten eher wenig Unterstützung. Ihre Eltern sind seit vielen Jahren geschieden. Während der Vater in Australien eine neue Familie gegründet hat, ist die Mutter vorab mit der Selbstfindung und ihren Gedichten beschäftigt. Die Beziehung zu ihrer ehemals besten Freundin Merle ist nach Luzies Rückkehr in die Heimat zerbrochen, während jene zu ihrer Grossmutter Margrit Raven als gut bezeichnet werden kann. Bei ihr fühlt sich Luzie aufgehoben, ohne Erklärungen abgeben zu müssen.
Mit dem Stechen eines schwierigen Tattoos am eigenen Körper hat Luzie ihre eigenen Selbstheilungskräfte mobilisiert und verfolgt nun die Idee, ihr Talent mit Nadelstichen aussagekräftige Bilder auf die Haut zu bringen, zu vertiefen. Ihre hundertzweijährige Grossmutter Margrit Raven ist geistig noch sehr rege, aber immer mehr körperliche Funktionen verursachen Beschwerden oder versagen ihren Dienst. Die alte Frau lebt in einer Seniorenresidenz an der Elbe und wartet auf den Tod. Doch sie sitzt nicht einfach untätig herum und bevor sie stirbt, möchte sie einerseits das Geheimnis um die Veränderung ihrer Enkelin ergründen und andererseits Erinnerungslücken an ihre eigenen frühen Lebensjahre schliessen, die sie mit ihrer Mutter in einem vaterlosen Haushalt verbracht hat. Nähe zu ihrer Enkelin stellt Margrit Raven her, in dem sie Luzie ihren faltigen Körper als Übungsfläche für ein grossflächiges Tattoo zur Verfügung stellt. Luzie reagiert zögerlich, denn das von der Grossmutter geplante riesige Tattoo wird dieser vieles abverlangen.
Die Erinnerungslücken der Seniorin betreffen den Römischen Garten über der Elbe und dessen Gestalterin Else Hoffa, welche die grosse Liebe der Mutter von Margrit Raven war. Täglich lässt sich die Seniorin vom jungen Fahrer Arthur in den nahe gelegenen Römischen Garten fahren und versucht, ihr Erinnerungsvermögen mit weiteren Fragmenten zu ergänzen. In Archiven sucht Ravens Ex-Schwiegertochter parallel nach schriftlich oder fotografisch festgehaltenen Spuren, damit sie wenigstens in dieser Recherchier-Rolle als Nebendarstellerin am Leben der eigenen Tochter teilnehmen kann.
Der Mitzwanziger Arthur fährt Senioren zur Dialyse oder eben zum Römischen Garten. Er engagiert sich für den Umweltschutz, erfindet Sprachen für Computerspiele oder Fantasyfilme und läuft stundenlang mit dem Sensor dem Elbstrand entlang. Trotz seines jungen Alters trägt auch er bereits eine schwere Last mit sich herum, nämlich Schuldgefühle.
Von Katherina Hagena habe ich vor etlichen Jahren bereits den 2008 publizierten Roman Der Geschmack von Apfelkernen hier im Blog vorgestellt. Ich schätze ihre intelligenten Erzählungen. In «Flusslinien» gab es Zugänge zu meiner privaten Wortsammlung, etwa «Pflanzenerkennungssepp» (App zum Erkennen von Pflanzen). Bei botanischen Unklarheiten hält Arthur jeweils sein Telefon an einen Pflanzenteil und der Pflanzenerkennungssepp schreibt zurück, um welche Planze es sich handelt. Margrit Raven, einst als Stimm- und Atemtherapeutin tätig, ist im Roman immer wieder für pointierte Formulierungen gut: «Alt sein ist oft gleichbedeutend mit wieder ein Kleinkind zu sein; einzig der Jö-Faktor fehlt». Oder Ravens Meinung zum Internetz (Internet): «Es wimmelt von Leuten, die nur senden und Empfänger fehlen».
Die Autorin schreibt über die vielen verschiedenen Arten von Schweigen (von beredt über friedvoll, gelangweilt, liebevoll bis vielsagend) und was fehlende Schwingungen in der Stimme bedeuten. Spannend für mich persönlich empfand ich als Sofagärtnerin Einschübe wie jener zum Schierlings-Wasserfenchel, dem durch Vertiefungen der Elbe die Lebensgrundlagen entzogen worden sind und als Schweizer Buchleserin in einem deutschen Roman über HADES, den hydrologische Atlas der Schweiz zu erfahren. Die Idee, eine über hundertjährige Frau zu tätowieren, dünkte mich zunächst sehr schräg. Aber tatsächlich passen die gestochenen Flusslinien ausgezeichnet zum Flusslauf dieser Erzählung.
Katharina Hagena:
Flusslinien
Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2025
Alle in diesem Beitrag erwähnten Bücher habe ich selber gekauft. Ich bin niemandem gegenüber in irgendeiner Weise verpflichtet und generiere keine Einnahmen aus den im Sofagarten vorgestellten Büchern.