Die unglücklich verheiratete Naturforscherin Emilie Nebelthau stammt aus ärmlichen Verhältnissen, während die unverheiratete Louise Gildemeester zwar bei Verwandten aufwachsen musste, aber ständig von Dienstboten umgeben ist und ihre Tage mit Pflanzenmalen und Treffen mit ihren beiden Freundinnen ausfüllt. In zwei Erzählsträngen bekommt die Leserin einen umfassenden Einblick in die völlig unterschiedlichen Leben der beiden jungen Frauen, deren scheinbar einzige Gemeinsamkeit ist, dass ihnen von (älteren) Männern diktiert wird, wie sie zu leben haben. Denn unabhängig von der gesellschaftlichen Schicht, in die sie geboren worden sind, haben Frauen Ende des 19. Jahrhunderts einen schwierigen Stand und vorgeschriebene Rollen zu erfüllen. Im Bürgertum sind die täglichen Sorgen um genügend Mahlzeiten und ein Dach über den Kopf nicht prioritär, dafür dürfen unverheiratete Frauen keinen Schritt ohne Begleitung in der Öffentlichkeit tun.
Die Wege von Emilie und Louise kreuzen sich ein erstes Mal zufällig und die Naturforscherin lobt die akkuraten Pflanzenzeichnungen der talentierten Malerin. Die anerkennenden Worte wecken in Louise Träume von einem Lebensentwurf ohne Heiraten zu müssen. Sie hat sich nämlich in den falschen Mann verliebt. Er ist durch die Heirat mit ihrer Cousine tabu, sendet ihr aber immer wieder Signale, die gegenteilige Hoffnungen wecken und bringt sie in kompromittierende Situationen, die für sie als Frau rufschädigende Konsequenzen haben können.
Emilie Nebelthau kämpft mit ganz anderen Herausforderungen. Die Basis ihres botanischen Wissens hat ihr die Mutter beigebracht, eine Heilpflanzenkennerin, die mit der Tochter regelmässig im Wald und auf Wiesen Kräuter gesammelt hat. Zur wissenschaftlichen Seite der Flora ist Emilie durch ihren Mann geführt worden, doch längst hat sie mit ihrer Wissbegier und ihrem Fleiss sein Wissen überflügelt. Als die Frau zuletzt nur in Begleitung ihres Hundes Culpeper und ihrer Katze Jeanne Barret länger unterwegs war, um mit dem Verkauf von selbst gepressten Herbarien Geld für die Familie zu verdienen, ist die gemeinsame fünfjährige Tochter unter der Obhut des Vaters verstorben. Mitten in ihrer Trauer und Verzweiflung erhält Emilie die Einladung, an einer Forschungsexpedition nach Australien teilzunehmen, die ein reicher Bremer Kaufmann finanziert, um mit nach Europa gebrachten Exponaten ein Museum aufzubauen. Durch diese Chance findet Emilie die Kraft und den Mut, den ungeliebten Ehemann zu verlassen, der seine Minderwertigkeitsgefühle im Alkohol ertränkt.
Der Expeditionsleiter der Australienreise ist wenig begeistert von der Frau, die sein Forschungsteam ergänzt und intrigiert offen gegen sie. Emilie ist es gewohnt zu kämpfen, doch die aggressive Ablehnung des Mannes und ihre Abhängigkeit vom reichen Mäzen, der sich nicht auf die Aneignung ihres Fachwissens beschränkt, bringt sie an den Rand ihrer Kräfte. An einem botanischen Vortrag treffen Emilie und Louise wieder aufeinander und Louise bietet ihr Unterstützung an. Die Naturforscherin zögert, der Frau aus gutem Haus zu vertrauen. Sind Emilies Bedenken gerechtfertigt oder sollten die beiden Frauen nicht zusammenhalten und sich gegenseitig unterstützen, damit der Traum von Freiheit und Unabhängigkeit, der beide antreibt, nicht von Männern vereitelt und bereits im Keim erstickt wird?
Von Christiane Lind habe ich schon verschiedene Bücher gelesen und teils auch hier im Blog vorgestellt und ich schätze insbesondere ihre klare Bildsprache, die während dem Lesen im Kopfkino die Szenen lebendig werden lässt. Als störend für den Lesefluss empfand ich die Dialekteinschübe. Der Roman hat einen für Sofagärtnerinnen signifikanten hortikulturelle Hintergrund (Pflanzenmalerei, Vorbereitung Forschungsreise, Herbarien). Aufgrund der Buchbeschreibung von «Weserleuchten» hatte ich eine Pflanzenjäger-Reise durch Australien erwartet. Spätestens als nach der Lektüre von rund drei Viertel des Buches immer noch keine Koffer gepackt und verschifft waren, musste ich endgültig akzeptieren, dass die Jagd nach dem grünen Gold nicht stattfinden wird. Ich bin gespannt, ob es eine Fortsetzung über die Forschungsreise in Down Under geben wird.
Die fiktive Romanfigur Emilie Nebelthau ist inspiriert von der umstrittenen deutschen Naturforscherin Amalie Dietrich (1821 – 1891). Deren Leben und Werk ist in verschiedenen Büchern über Pflanzenjäger beschrieben und auch der Roman «Das Geheimnis jenes Tages» von Annette Dutton, den ich hier vorgestellt habe, basiert auf Dietrichs Lebenslauf.
Christiane Lind:
Weserleuchten – Aufbruch in eine neue Welt
Ullstein, 2025
Alle in diesem Beitrag erwähnten Bücher habe ich selber gekauft. Ich bin niemandem gegenüber in irgendeiner Weise verpflichtet und generiere keine Einnahmen aus den im Sofagarten vorgestellten Büchern.