Der Thriller «Flora» von Astrid Korten ist zufällig gleich der zweite Roman zum Thema Mutterliebe oder eher deren Nicht-Vorhandensein, den ich in den letzten Wochen gelesen habe. «Abra» von Joan Barfoot aus dem Jahr 1978 habe ich hier vorgestellt. «Flora» von Astrid Korten ist erst kürzlich erschienen. Während «Abra» weitgehend in der kanadischen Wildnis angesiedelt ist, spielt «Flora» teilweise auf einem völlig abgelegenen Hof in den bayrischen Voralpen, wo Ende der siebziger und in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts in der rauen Bergwelt zwischen Korkeichen, Kiefern und Ginster und viel Schnee im Winter zwei Personen ums tägliche Überleben kämpfen.
Die titelgebende Frau namens Flora hat die ersten vierzehn Jahre ihres Lebens völlig abgeschnitten vom Rest der Welt mit ihrer lieblosen Mutter verbracht. Jene hat ihr keinerlei mütterliche Liebe entgegengebracht, dafür vermittelt, wie man Tiere tötet, um in den Bergen überleben zu können. Ausserdem hat die Mutter der ihr verhassten Tochter eingeschärft, dass sie beide in der guten Welt leben und jenseits des nahe von ihrem Hof gelegenen Tunnels die böse Welt der Teufel anfängt. Wenn die Mutter jeweils alleine ins Tal hinunter zu den Teufeln ging, um Kräuter gegen Nahrung zu tauschen, musste Flora angekettet im dunklen Keller ihre Rückkehr ausharren. Dass die seltsame Frau im Grafenloch mit einem Mädchen zusammenlebt, wusste niemand.
Auch ausserhalb des Kellers hielt das Leben für Flora wenig positive Erlebnisse bereit. Ihre Tage als Leibeigene der Mutter waren mit viel Arbeit ausgefüllt. Zu Floras Glücksmomenten zählten die Minuten, in denen sie von der Mutter unbeobachtet auf dem Moos lag und sich von Wind und Sonne berühren liess, ohne dabei die ständigen Bedrohungen durch die Wildnis der Voralpen zu ignorieren. Die Mutter vermied jegliche Berührungen der Tochter.
Nach dem die Mutter ermordet worden ist, wird das von Flora zelebrierte Beerdigungsritual zufällig von einem vorbeifliegenden Hubschrauberpilot beobachtet und die Existenz der des vierzehnjährigen Mädchens wird entdeckt. Die junge Analphabetin mit grossen sozialen Defiziten kommt daraufhin für ein Jahr in eine psychiatrische Klinik. Die hochintelligente Flora holt die Schulbildung nach und ist dreissig Jahre später eine bekannte und qualifizierte Kräuterexpertin mit einem Doktortitel in Pharmazie.
Auch als erwachsene Frau in den Vierzigern hat Flora zuweilen immer noch ihre Mühe mit sozialen Kontakten und den zwischenmenschlichen Gepflogenheiten, wohingegen ihr Geruchssinn besonders stark ausgeprägt ist und sie böses und gutes und sogar Krankheiten aufgrund der Ausdünstungen ihrer Gegenüber wittern kann. Ihre Adoptivmutter Martha ist der einzige Mensch, dem sie bedingungslos vertraut. Die beiden Frauen sind auch geschäftlich eng verbunden. Flora hat es nämlich geschafft, das ihr von der Mutter als Kräuterfachfrau in der alpinen Jugend vermittelte Wissen über heilende und giftige Pflanzen beruflich in die florierenden Kräuterläden «Floresse» einzubringen.
Anlässlich der Eröffnung eines weiteren «Floresse»-Geschäfts taucht plötzlich eine Frau auf, die gleich aussieht wie Flora und sich als ihre Zwillingsschwester Ella entpuppt. Die Agraringenieurin Ella leitet zusammen mit ihrem Ehemann ein Weingut, das sie geerbt hat, und ist Mutter von zwei Kindern. Ella ist bei der Auflösung des Zimmers ihrer kranken Mutter auf einen in einem Buch versteckten Zeitungsausschnitt über Flora gestossen und ihr ist sofort die unübersehbare Ähnlichkeit aufgefallen. Die beiden Schwestern sind in völlig unterschiedlichen Verhältnissen aufgewachsen – die eine braucht Freundschaften und materielle Dinge, die andere schätzt Abstand zu Menschen und das Eins-sein mit der Natur.
Ella hat unzählige Fragen an Flora. Sie will alles wissen und herausfinden, warum die beiden Schwestern getrennt worden sind. So unvermittelt Ella in Floras Leben aufgetaucht ist, so schnell verschwindet sie wieder und ist auch für den Ehemann nicht erreichbar. Flora spürt, dass Ellas Verschwinden mit der gemeinsamen Mutter zusammenhängt und macht sich auf die Suche nach Ella und damit auf eine gefährliche Reise in die Vergangenheit, während der Geheimnisse, Lügen und Verbrechen aufgedeckt werden und in Flora längst verdrängte Erinnerungen hochkommen.
Die Lektüre war ausserordentlich fesselnd – der Aufbau der Geschichte, in der etliche Menschen kommen und gehen und wieder auftauchen, ist erstklassig durchdacht, zuweilen aber auch sehr brutal und das Gelesene nur schwer zu verdauen. Mein Fehler war, dass ich erst nach der letzten auf dem E-Reader gelesenen Seite festgestellt habe, dass sich zuhinterst das vermisste Personenverzeichnis befindet. Vielleicht steht das sogar im Kapitalverzeichnis am Anfang des Buches? Der Autorin oder der Lektorin ankreiden muss ich, dass der Lesegenuss leider durch auffallend viele Textfehler getrübt worden ist. Da waren in Sätzen mal zu wenig Wörter, dann wieder zu viele – unnötige und vermeidbare Stolperfallen des Leseflusses. Eine Person trägt auf einer Seite ein paar Zeilen weiter plötzlich einen anderen Vornamen.
Besonders positiv aufgefallen sind mir Einschübe wie etwa Marthas Rat an Flora (Zitat aus dem Buch): «halte das Fenster deines Denkens immer offen und lass neue Gedanken herein», nämlich so wie wir die Fenster unserer Wohnungen regelmässig öffnen, um frische Luft hereinzuzulassen und der Vergleich von DNA mit einer Schachtel voller Buntstifte. Jeder bekommt eine Schachtel voller Buntstifte, aber das Leben bestimmt, welche Bilder in welchen Farben ein jeder damit malt.
Astrid Korten:
Flora
Eigenverlag, 2024
Alle in diesem Beitrag erwähnten Bücher habe ich selber gekauft. Ich bin niemandem gegenüber in irgendeiner Weise verpflichtet und generiere keine Einnahmen aus den im Sofagarten vorgestellten Büchern.