Das südöstlich von Paris gelegene Schloss Fontainebleau zieht jährlich viele Touristen an und die symmetrisch angelegten Gärten müssen jederzeit perfekt getrimmt sein. Sie sind nach Plänen von André Le Nôtre angelegt und zeugen heute, mehr als dreihundert Jahre nach ihrer Erstellung, noch von der damaligen Macht des damals herrschenden Sonnenkönigs. Und wie es sich für einen ordnungsgemässen französischen Schlossgarten gehört, sind auch in Fontainebleau akkurat geschnittene Hecken für das Gesamtbild, das vermittelt werden will, unerlässlich.
Doch nun fehlt plötzlich zunächst ein Kegel-Buchsbaum im Rasen des Grand Parterre und an dessen Stelle verunstaltet eine gemeine junge Kiefer in ähnlicher Höhe die geometrische Ordnung. Weitere Gehölze verschwinden und an deren statt tauchen andere auf. Plötzlich wächst eine Eiche in der Lücke einer Allee, aus der zuvor eine Linde verschwunden ist. Das Verrücken der Bäume weckt rund um den Globus Aufmerksamkeit. Schliesslich gehört der berühmte Garten von Fontainebleau zum kulturellen Erbe der Nation.
Die frevelhaften Aktionen hinterlassen keinerlei Spuren und so landet der Fall in der Hauptstadt, und zwar in der Abteilung für unlösbare Fälle. In eben diesem Team stehen Beförderungen an, weil der Vorgesetze in den Ruhestand geht. Ausgerechnet Kommissar Armand Duboc, der schon länger keinen beruflichen Erfolg mehr verzeichnen kann, wird mit den Ermittlungen beauftragt und nach Fontainebleau geschickt. Für den knapp vierzig Jahre alten Duboc, der mit seiner beruflichen Situation nicht zufrieden ist, wäre die Lösung dieses Baumrätsels wohl die letzte Chance, auf der Karriereleiter einen Tritt nach oben zu machen. Er verfügt über einen siebten Sinn und kann schon seit frühester Kindheit Engel und Dämonen sehen, die für andere Menschen unsichtbar sind. Dies Fähigkeiten hält er aber geheim, um frühere negative Erfahrungen nicht zu wiederholen.
Duboc hat seine Kindheit in der Stadt Fontainebleau verbracht und als Junge im Schlossgarten Verstecken gespielt. Gleich nach seiner Ankunft im Fontainebleau spricht er mit dem zuständigen Polizisten, dem Chefgärtner und einem Förster und er schaut sich die Tatorte an. Das gesamte Gartengelände wird durch drei Meter hohe Eisenzäune eingerahmt und die Tore werden nachts geschlossen. Weder sind an den betroffenen Bäumen Äste oder Zweige abgebrochen, noch sind Anhaltspunkte auf irgendwelche Grabtätigkeiten auszumachen. Auffällig ist einzig die Spur eines seltsamen Hufes. In die geometrische Bepflanzung soll dringend wieder Ordnung gebracht werden, doch dieses Vorhaben braucht eine genaue Vorbereitung und es ist nicht die richtige Jahreszeit dafür.
Eine wichtige Rolle in der Erzählung spielen auch Louis und seine Flöte. Durch Einblicke in dessen Tagebuch aus dem Jahr 2008 erfährt die Leserin von seiner geerbten Bestimmung, wie er davon erfahren hat und welche Aufgaben ihm dadurch auferlegt sind und was es mit den sogenannten Waldrebellen auf sich hat.
Sein Aufenthalt in Fontainebleau verschafft Duboc Gelegenheit, unerledigtes aus seiner Vergangenheit zu reflektieren. Er stellt Parallelen zwischen den geschnittenen Bäumen und sich selbst auferlegten Einschränkungen fest. Schafft er es, die Beziehungen mit seinem ehemals besten Freund Marcel und mit seiner grössten Liebe Beatrice nach langen Jahren ohne Kontakt wieder aufleben zu lassen oder wird ihn seine latente Unzufriedenheit bis zu seiner Pensionierung begleiten? Und gelingt es Armand Duboc die Botschaft der vertauschten Bäume zu entschlüsseln?
«Wenn der Gärtner schläft» ist ein spannender Seitenumdreher, der ganz ohne Blutvergiessen auskommt, jedenfalls ohne rotes. Wie es mit grünem Blut steht, bleibt der Fantasie der Leserin überlassen. Die Lektüre eignet sich ausgezeichnet für Leserinnen, die sich auch auf Inhalte einlassen mögen, die nicht vollumfänglich wissenschaftlich belegt sind. Stichworte dazu sind etwa Waldfunk und Faune. Die Autorin hat eine spannende Lektüre zum Miträtseln verfasst, kombiniert mit einem erzählerischen Ende, das Raum für eigene Interpretationen lässt und sich überlegt, wo der Unterschied in der Formulierung liegt, ob Bäume verrückt worden oder verrückt geworden sind.
Nebenbei liest man über die Geschichte des Waldes von Fontainebleau und dass die heutige Umweltbewegung auf Künstler zurückgeht. Und haben Sie gewusst, das Bouldern (Klettern ohne Kletterseil und ohne Klettergurt) in Fontainebleau erfunden worden ist und das Gebiet mit tausenden von natürlichen Blöcken heutzutage Sportler aus aller Welt anlockt? Auch Armand Duboc hat diese körperliche Betätigung früher ausgeübt.
Rosemarie Stresemann:
Wenn der Gärtner schläft
Eigenverlag, 2024
Alle in diesem Beitrag erwähnten Bücher habe ich selber gekauft. Ich bin niemandem gegenüber in irgendeiner Weise verpflichtet und generiere keine Einnahmen aus den im Sofagarten vorgestellten Büchern.