Joan Barfoot: Abra  

Ab und zu liest man ein Buch, das einem auch nach Abschluss der Lektüre fast nicht mehr loslässt, weil einem der Inhalt dermassen bewegt und zum Nachdenken anregt. «Abra» zählt für mich eindeutig in die Kategorie dieser eher seltenen Veröffentlichungen. Vor über vier Jahrzehnten ist es im englischen Original erschienen und 2001 kam auch eine deutsche Übersetzung («Eine Hütte für mich allein») heraus.

Was passiert mit Menschen, die mal eben kurz Zigaretten kaufen gehen und dann spurlos verschwinden? Oder ist die Frage eher, was ist mit ihnen vor dem Verschwinden geschehen? Im Buch «Abra» geht es nicht ums Holen von Zigaretten, sondern um eine Ehefrau und Mutter, die spontan und heimlich ein Teil des Geldes aus dem Erbe ihrer verstorbenen Grossmutter (das der Mann ohne ausdrückliches Einverständnis der eigentlichen Erbin für die gemeinsamen Kinder auf die Seite gelegt hat) in den Kauf einer Hütte samt einer Weide und steinigem Farmland in einer wenig besiedelten Gegend investiert. Abra verlässt Ehemann, Sohn, Tochter und auch ihre eigenen Eltern, um auf sich alleine gestellt in der kanadischen Natur ein einsames Leben zu führen, nachdem sie innert wenigen Tagen ihren Auszug vorbereitet und durchgezogen hat.

Schnell stellt sie fest, wie wenig sie weiss, um fernab von der Stadt alleine in, mit und von der Natur leben zu können. Um haushälterisch mit dem Rest-Erbe umzugehen, muss sie ihre Nahrung anbauen. Sie zeichnet Pläne für Gartenbeete mit Tomaten, Salat, Bohnen, Zwiebeln und anderem Gemüse und macht sich umgehend an die Arbeit. Zielstrebig, ohne Blicke zurück in die Vergangenheit, nimmt sie ihr neues Leben in Angriff. Sie verschwendet keine Gedanken an ihre Familie und ihre Eltern, verspürt keine Schuld, kein Bedauern. Bald spriessen im Garten erste Pflanzen und trotz der vielen strengen Arbeit spürt sie in der Einsamkeit eine Kraft, die ihr in der Stadt und im Leben mit der Familie gefehlt hat. Sie konzentriert sich auf das notwendige.

Neun Jahre lebt die mittlerweile dreiundvierzigjährige Abra inzwischen alleine in ihrer Hütte, mit einer grossen Distanz zu anderen Menschen. Ohne Spiegel, ohne Kalender und ohne Uhr. Sie hat zu einer erprobten Routine gefunden, die sich völlig an den Jahreszeiten und Naturgewalten ausrichtet und von ihren eigenen Kräften gesteuert wird. Die letzten Jahre hat sie zu einem grossen Teil damit zugebracht, ihrem weitläufigen, wenig fruchtbaren Land Beete für Früchte und Gemüse abzutrotzen und einen Garten zu kultivieren. Dieser Alltagstrott wird durch das Erscheinen eines jungen Mädchens gestört, das langsam in Richtung der Hütte läuft, während Abra das Salatbeet von Unkraut befreit und die jungen Pflanzen ausdünnt.

Bei der jungen Frau handelt es sich um Kate, Abras inzwischen volljährige Tochter. Mutter und Tochter erkennen sich nicht auf Anhieb. Kate hat Mühe, in der verhärmt aussehenden Frau ihre gepflegte Mutter aus der Erinnerung wieder zu erkennen und in Abras Kopf ist Kate ein dünnes neunjähriges Mädchen. Natürlich hat Kate viele Fragen. Die wichtigste: sie will wissen, warum die Mutter sie verlassen hat. Aber Abra fühlt sich gestört. Sie will und muss arbeiten. Als Selbstversorgerin, die im strengen kanadischen Winter von der Umwelt abgeschnitten ist, darf sie sich keine Pausen im Garten erlauben, sondern muss für die nächste schneereiche Jahreszeit vorzusorgen.

Abra hat gelernt, schonend mit ihren Kräften umzugehen. Ihre Tage sind strukturiert und die täglichen Aufgaben beinhalten Gärtnern, Holz hacken und Vorräte anlegen. Und obwohl ihre Ernteerträge nicht immens sind, ist sie während vielen Wochen damit beschäftigt, diese haltbar zu machen. Neben Einmachen, Einfrieren und Fermentieren, gilt es auch, den kargen Gartenboden regelmässig mit Kompost zu versorgen, damit im kommenden Frühling der Zyklus wieder von neuem beginnen kann. Abra lebt sehr naturverbunden. Sie mag es, die von ihr ausgesäten und aufgezogenen Pflanzen zu berühren und freut sich am Auftauchen von Mohn, auch wenn er nur kurz bleibt. Immer noch ist sie am Lernen und Ausprobieren, was auf ihrem schlechten Boden wächst und was sich nicht lohnt. Der Kohl etwa macht jedes Jahr Probleme und sie hat (noch) nicht herausfinden können, woran es liegt.

Durch das Auftauchen von Kate wird Abra mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Die längst weggesperrten Erinnerungen kommen wieder an die Oberfläche und bringen die Mutter aus der Balance. Was waren die Auslöser für ihr Verschwinden? Weshalb hinterlässt eine Mutter ihren elfjährigen Sohn, die neunjährige Tochter und den liebevollen, erfolgreichen Ehemann und hinterlässt einzig eine kurze Nachricht im grossen, modernen Wohnhaus? Einen Zettel, auf dem nur steht, dass ihr Verschwinden nichts mit der Familie zu tun hat, sie nicht gefunden werden will, die Kinder bei der Nachbarin sind und das Essen im Kühlschrank.

Während mehrerer Wochen kommt Kate immer wieder zur Hütte, nähert sich der Mutter an und schafft es, ihre Wut in eine Form von Akzeptanz zu verwandeln, Ja, Kate will Abra sogar dazu bewegen, in die Zivilisation zurückzukehren und mit ihr zusammenzuziehen. Doch ist diese Idee nicht von Anfang an zum Scheitern verurteilt?

Nicht jede Mutter hat mütterliche Gefühle und kann oder will den sozialen Erwartungen entsprechen. Was vor dem sinnbildlichen Zigarettenholen mit Abra passiert ist, schildert Joan Barfoot in diesem Roman sehr einfühlsam. Ich kann durchaus nachvollziehen, dass die radikale Trennung von der Familie und die Distanz zum Rest der Welt notwendig waren, um Abras Apathie zu überwinden. Mit dieser ihr eigenen Stärke, hat sie das Gefüge und Vertrauen der Zurückgebliebenen vollständig durcheinandergebracht und zumindest teilweise oder für lange Zeit unrettbar zerstört. Unverständlich, oder eher unverzeihlich, dünkt mich aber die Art und Weise, wie die zweifache Mutter den Bruch vollzogen hat.

 

Joan Barfoot:
Abra
Diverse englische Ausgaben, erstmals publiziert 1978

Eine Hütte für mich allein (deutsche Übersetzung)
Rowohlt Verlag, 2001

Alle in diesem Beitrag erwähnten Bücher habe ich selber gekauft. Ich bin niemandem gegenüber in irgendeiner Weise verpflichtet und generiere keine Einnahmen aus den im Sofagarten vorgestellten Büchern.

 

 

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