Der dramatische Prolog des Buches «Nachtwald» katapultiert die Leserin direkt auf eine der letzten Seiten der Lektüre. Bis die Leserin nach über dreihundertfünfzig Seiten ohne spoilern schliesslich dort anlangt, begegnet sie verschiedenen undurchschaubaren Charakteren, die weit abseits von Zivilisation und Nachbarn gemeinsam ein Wochenende unter einem Dach als Gäste von George und Freya Butler verbringen. George Butler ist der frisch angetraute Ehemann von Claire O’Shea, der Mutter von Lizzie und Liam.
Die dreiundzwanzigjährige Lizzie hat gerade ein halbes Jahr auf einer Farm verbracht, wo sie mit Therapien und Gartenarbeit ihre Alkohol- und Drogensucht bekämpft hat. Sie ist nun trocken und clean und weiss aus Reflexionen, dass sie etliche schlechte Eigenschaften ihres Vaters übernommen hat. Sie schämt sich inzwischen sehr für ihr rücksichtsloses, suchtgesteuertes Verhalten, das ausgelöst worden ist durch die Taten ihres verstorbenen Vaters Declan, der die Familie in einem grossen Schlamassel zurückgelassen hat, von dem diese keine Ahnung hatte. Während sechs Monaten hatte Lizzie keinerlei Kontakt zu Mutter und zum ein paar Jahre jüngeren Bruder und dem neuen Stiefvater ist sie noch nie begegnet. Lizzie weiss, dass sie das Vertrauen ihrer Angehörigen erst wieder verdienen muss und hofft, dass Liam ihr verzeiht, dass sie als Fahrerin betrunken einen Autounfall verursacht hat und er als Beifahrer dabei ernsthaft verletzt worden ist.
Am Freitagnachmittag lernt Lizzie den neuen Mann an der Seite ihrer Mutter kennen und anschliessend fahren die drei O’Sheas mit George quer durch Irland zu dessen Haus. Lizzie glaubt, dass das Kennenlern-Wochenende der neuen Patchworkfamilie in einem Cottage stattfindet. Nach einer mehrstündigen Fahrt wird das Auto an einem Waldrand zurückgelassen und die vier Personen gehen zu Fuss weiter. Zwischen unzähligen Baumstämmen geht es auf unwegsamen Pfaden durch einen dichten, düsteren Wald. Farne, wild wuchernde Rhododendron und moosbedeckte verrottende Stämme sowie ungewohnte Geräusche und Düfte begleiten den Marsch. Die Balken mit der Signalstärke des Handyempfangs sind einer gähnenden Leere gewichen. Immerhin ist es in diesem Dschungel kühler als in der sonst herrschenden Sommerhitze.
Nachdem es endlich heller wird und der braune Waldboden in einen grünen Rasen übergeht, stehen die Ankömmlinge nicht wie erwartet vor einem kleinen Cottage, sondern vor einem riesigen alten Herrenhaus mit unübersehbarem Renovationsbedarf. Begrüsst werden sie von Freya, der ebenfalls dreiundzwanzigjährigen Tochter von George, die mit einer Überraschung aufwartet. Auch sie ist nämlich frisch vermählt und ihr Mann Hudson, ein reicher amerikanischer Erbe, ist an ihrer Seite. Für das Wohl der Gäste sorgt eine Köchin, die für das Wochenende angestellt worden ist.
Die immer wieder von Spannungen durchsetzte erste Begegnung der neu zusammengewürfelten Familie bekommt eine zusätzliche Brisanz, als ein weiterer Gast in Butler Hall auftaucht, der nicht eingeladen ist und am Samstag wird eine Leiche entdeckt. Das Opfer starb eindeutig keinen natürlichen Tod und der Mörder muss sich zweifelsfrei unter den Anwesenden befinden.
Für einen hortikulturellen Hintergrund des Thrillers sorgen eine von Efeu überwachsene Folly in Form einer künstlichen Ruine mit einem Kuppeldach auf Steinsäulen sowie ein stark zugewucherter Garten, dessen Beete von Mauern umrahmt werden. Des weiteren hat die gärtnerisch interessierte Claire sich vor dem Wochenende eine Pflanzenbestimmungs-App auf ihr Smartphone heruntergeladen und findet damit ohne Netzverbindung heraus, dass ein Beet dieses Walled Gardens ausschliesslich mit giftigen Pflanzen bestückt ist.
Flora und Fauna rund um Butler Hall sind tatsächlich äusserst faszinierend, doch es passieren schreckliche Dinge auf dem schwer zu durchkämmenden Grundstück und Offline-Resultate einer App können auch missbräuchlich verwendet werden. Im Buch wird gegraben, aber nicht um Pflanzen zu setzen. Und es kommt zu Schweissausbrüchen, aber nicht, weil gegraben wird. In einem Setting aus Taktieren und Balancieren zwischen Bemühungen, eine Familienidylle heraufzubeschwören und gegenseitige Verdächtigungen auszuhalten, hat die Autorin einen spannenden (Soft-)Thriller geschrieben. Die Inspiration zu «Nachtwald» kam der Triona Walsh übrigens beim Betrachten eines Fotos auf Facebook, das die Luftaufnahme eines vergessenen Herrenhauses, einem Lost Place namens Moore Hall, der in Westirland steht.
Nachtwald – Wem kannst du vertrauen, wenn es dunkel wird?
Fischer Verlag, 2024
Alle in diesem Beitrag erwähnten Bücher habe ich selber gekauft. Ich bin niemandem gegenüber in irgendeiner Weise verpflichtet und generiere keine Einnahmen aus den im Sofagarten vorgestellten Büchern.