Sarah Hardy: Der erste Frühling danach

Der Alltag nach dem Krieg ist unvorstellbar schwierig. Von den ausgelassenen Freudentänzen auf den Strassen nach der Verkündung des Sieges im Mai 1945 ist ein knappes Jahr später im von Bombenangriffen heftig getroffenen England nichts übriggeblieben. Trotz dem Triumpf über die Nazis haben die Engländer hohe Verluste zu verzeichnen – unzählige junge Männer haben ihr Leben in Schützengräben oder auf dem Schlachtfeld verloren und auch wenn der Feind nicht in die Wohnungen eindringen konnte, hat er sich in der Psyche der überlebenden Menschen festgekrallt. Das brutale Elend eines jeden Krieges auf den Punkt bringt der Satz (Zitat aus dem Roman) «Niemand überlebt den Krieg unversehrt».

Blühende Schneeglöckchen wirken für den Betrachter zerbrechlich, doch der Vorfrühlingsblüher dringt kraftvoll und zuverlässig durch den gefrorenen spätwinterlichen Boden. Die weissen Zwiebelblumen sind eine Zierde für jeden Garten und verbreiten gerade in diesem ersten Nachkriegs-Frühling Hoffnung. Auch die knapp dreissigjährige Lady Alice Rayne klammert sich an jeden Strohhalm oder eben an jedes Schneeglöckchen, das Zuversicht verbreitet. Ihr Mann Stephen ist als letzter aus dem Krieg ins Küstendorf in Suffolk heimgekehrt, zwar körperlich völlig unversehrt, doch er spricht nicht mehr mit seiner Ehefrau.

Stephen Rayne redet nicht darüber, wo er zwischen 1939 und 1945 war, was mit ihm passiert ist und was er getan hat. Der vormals schreibgewandte und erfolgreiche Poet bestraft sich selber für seine Kriegshandlungen. Und seine Nahestehenden sind gezwungen mitzuleiden, weil er sich keinerlei Freude am Leben mehr erlaubt. Er verhöhnt seine Frau und ist gleichzeitig explosiv wie ein Blindgänger, der dringend ungefährlich gemacht werden muss. Nur gibt es keine Anleitung für dieses Entschärfung. Alice sehnt sich nach der Person, die sie geheiratet hat, von der aber nur noch die äussere Hülle zu existieren scheint.

Der Wohnsitz Oakburne Hall der Eheleute ist so gross, dass zwischen den Räumen der getrennt schlafenden Paares fünf Gehminuten liegen, und manchmal begegnen sich die beiden während Tagen überhaupt nicht. Zwar ist das auf einem riesigen Grunstück stehende Herrenhaus nicht zerbombt worden, aber an allen Ecken und Enden sind dringende Renovationen notwendig, für welche die finanziellen Mittel fehlen. Mangels anderer Einnahmequellen verkauft Alice Rayne Hausrat und Geschirr, das die Familie ihres Mannes über Jahrhunderte angehäuft hat, an millionenschwere Amerikaner. Stephen verweigert sich jeglichen Überlegungen über die Zukunft von Oakburne Hall und Alice verbringt immer mehr Zeit im zugewucherten, völlig verunkrauteten ummauerten Garten. Ihr verstorbenen Vater war Botaniker und als Züchter spezialisiert auf Rosen für kleine Gärten. Oft liest sie in seinen botanischen Tagebüchern. Die Einträge über die Pollenproduktion bei Fingerhüten (Digitalis) oder die Keimfähigkeit von Baumwollsamen bei Temperaturschwankungen lenken sie von ihren Sorgen ab.

Vor Kriegsausbruch waren ein Chefgärtner und zwanzig Arbeiter angestellt, nun versucht Alice alleine den vernachlässigten Garten wieder instand zu setzen. Sie ist zäh und entfernt Gestrüpp und bereitet Beete für Aussaaten vor. Unzählige Stunden verbringt sie im Kampf gegen Giersch, Löwenzahn und Brennnesseln und sorgt für die Vermehrung der Fleischtomatensorte «Beefsteak», die von einem während dem Krieg in Oakburne Hall stationierten Kanadier stammt.

Während im Garten nach und nach wieder ein wenig Ordnung einkehrt, schreitet das Zerbrechen der Ehe der Raynes fort. Ähnlich wie der Mörtel in der Fugen der fünf Meter hohen, den Garten umgebenden Mauer zerbröselt und die deswegen hochgradig einsturzgefährdet ist. Soll Alice sich scheiden lassen? Kann die unsichtbare Kluft, die sich in ihre Beziehung geschlichen hat, überwunden werden und der eloquente zweisprachige Diplomat und Künstler Stephen Rayne kommt wieder zum Vorschein?

Neben dem Ehepaar Rayne spielen der junge, schwer kranke Pfarrer Ivens mit ausgeprägtem musikalischen Talent und die Familie Downes eine wichtige Rolle im Roman. Der dreifache Vater und Arzt Downes hat im Krieg ein Bein verloren und ist mit einem Tremor in den Händen nach Hause gekommen. Er hadert mit seinem Schicksal und der entgangenen Karriere als Chirurg mit Spezialgebiet menschliches Herz. Seine Frau hat während der Abwesenheit ihres Ehemannes als Krankenschwester Anerkennung gefunden und muss nun ihre beruflichen Talente an die ungeliebte Haushaltführung verschwenden. Streitereien sind an der Tagesordnung und die Vorurteile des Arztes sind auch nicht hilfreich.

Was passiert nach Kriegsende mit den Menschen? Können grausame Dinge und Schuld ihren Schrecken durch Totschweigen verlieren und verschwinden? Sarah Hardy hat überaus glaubwürdige Charaktere geschaffen und führt die Leser in diesem Roman auf eindrückliche und einfühlsame Weise durch das kriegsgebeutelte Suffolk.

Diesen Roman hatte ich im Sommer auf meine E-Reader heruntergeladen mit der Absicht, ihn in den Ferien zu lesen. Im Zeitpunkt des Kaufes war mir überhaupt nicht bewusst, wie geeignet diese Lektüre gerade anlässlich unseres Aufenthalts in der Normandie sein würde. Insbesondere der Besuch des Musée du Débarquement in Arromanches. welches die Operation Overlord, also die Landung der alliiterierten Truppen in der Normandie am 6. Juni 1944 (D-Day) dokumentiert, war eine äusserst adäquate Ergänzung zum Kopfkino.

 

Sarah Hardy:

Der erste Frühling danach

Heyne Verlag, 2024

 

Alle in diesem Beitrag erwähnten Bücher habe ich selber gekauft. Ich bin niemandem gegenüber in irgendeiner Weise verpflichtet und generiere keine Einnahmen aus den im Sofagarten vorgestellten Büchern.

 

 

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