Mögen Sie Hyazinthen und freuen sich schon auf die nächste Blütezeit, die gerade jetzt geplant und umgesetzt werden sollte? Dann ist «Hyazinthenschwestern» von Rebekka Eder vielleicht geeignet, die Zeit bis dahin zu überbrücken. Obwohl, wenn es Ihnen wie mir geht, werden nach der Lektüre immer noch etliche Monate bis zum nächsten Frühling zu überwinden sein. Ich konnte das Buch nämlich kaum aus den Händen legen, dermassen fesselnd fand ich es. Und dies wohlgemerkt, obwohl ich Hyazinthen (besonders den intensiven süsslich-schweren Duft) nicht besonders mag, aber dafür umso mehr Gefallen an antiken Hyazinthengläsern in unterschiedlichen Grüntönen finde. Zu letzteren gibt es übrigens auch eine interessante Publikation, nämlich «Hyazinthengläser: Geschichte und Tradition» von Joachim Henle aus dem Jahr 2000.
Aber nun zum Inhalt des Romans «Hyazinthenschwestern», in dem die Autorin geschickt eingehend recherchierte historische Fakten wie die Berliner Märzrevolution 1848 mit einer fiktiven Hyazinthengärtnerfamilie verknüpft, die ihrerseits ebenfalls in Grundzügen inspiriert ist von der Familie Sonntag, die im 19. Jahrhundert in Boxhagen (heute Berlin) Gartenbau betrieben hat.
Alba Sonntag ist die mittlere von fünf Schwestern, die seit vier Jahren anteilsmässig Erbpächterinnen von 260 Morgen Land sind, nachdem die Eltern und der einzige Bruder verstorben sind. Die Mutter war Blumenzüchterin und hat ihren Mädchen die Blumensprache beigebracht. Das vieldeutige Kommunikationsmittel wird aber nur noch durch Alba angewendet. Das Schwestern-Quintett mit völlig unterschiedlichen einzelnen Charakteren ist untereinander zerstritten. Alba ist die einzige der Sonntags-Töchter, die einen grünen Daumen hat und den Kontakt mit der Erde und die Stille draussen bei den Pflanzen liebt. Das liegt mit daran, dass sie nur bei strenger Gartenarbeit ihre Schuldgefühle und ihr schlechtes Gewissen für Momente verdrängen kann.
Während Alba ungeduldig auf ein Ende des Winters hofft, damit endlich ihre geliebten Hyazinthen blühen, und vom Leben und den sich anbahnenden gesellschaftlichen Umwälzungen in der nicht sehr weit entfernten Stadt wenig mitbekommt, steckt der mittellose Student Kasimir Nebel mitten im Berliner Geschehen und beteiligt sich aktiv an den Kämpfen von Liberalen und Demokraten gegen die preussische Herrschaft. Als Sohn einer Fabrikarbeiterin darf er bei befreundeten reichen Studenten wohnen und hat deshalb Umgang mit klugen Gelehrten. Im Roman haben denn auch Bettina von Arnim und Theodor Fontane Auftritte.
Bei einer illegalen Plakataktion kann Kasimir knapp den ihn verfolgenden königlichen Soldaten entkommen, wird aber verletzt. Er schafft es die Stadtgrenzen hinter sich zu lassen und sucht in der näheren Umgebung Unterschlupf. So gelangt er auf die Blumenfelder der Schwestern Sonntag, wo er am nächsten Morgen von Alba schlafend aufgefunden wird. Da sie glaubt, es handle sich um den neuen Gärtner und Kasimir die Verwechslung nicht aufklärt, führt sie ihn in seine Unterkunft. Der Städter verfügt über einiges angelesenes botanischen Wissen, so dass er sich beim Gärtnern nicht völlig lächerlich macht. Ausserdem ist er sehr wissbegierig und geschickt.
Alba führt in nächster Nähe zu ihren Schwestern ein isoliertes Leben. Wenn sie nicht auf dem Blumenfeld arbeitet, versteckt sie sich in ihrem Gewächshaus. Der neugierige Kasimir bringt ihre Gefühlswelt durcheinander und die beiden jungen Leute beginnen, mit Blumenbotschaften zu kommunizieren. Da es jedoch in der Blumensprache unterschiedlich Interpretationen gibt, kommt es zu etlichen Missverständnissen. Als der richtige Gärtner mit Verspätung seine Stelle antreten will, verschwindet Kasimir nach zehn Tagen ohne Erklärung wieder aus Albas Leben.
Es gibt viel Konkurrenz im Blumengeschäft und die Stadt Berlin wächst unaufhaltsam, während die Geschäfte nur leidlich laufen. Die Einnahmen decken kaum die Kosten und es gibt immer wieder Interessenten, welche den Erbpächterinnen ihre Landanteile abkaufen wollen. Die fünf Sonntag-Schwestern wohnen zwar alle in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander, aber trotzdem haben die einzelnen Frauen Geheimnisse, von denen die anderen nichts ahnen und diese Tatsache wird von einem Dritten skrupellos ausgenutzt. In der Folge kommt es nicht nur in Berlin zu dramatischen Geschehnissen, sondern auch im ländlichen Boxhagen.
Neben dem Hyazinthengärtnern spielt die Blumensprache eine wichtige Rolle im Buch. Auch die Namen der Schwestern haben florale Bedeutungen; z.B. Ludmilla, die Wetterdistel; Ottilie, die Mohnblüte und Carla, die Ringelblume. Der Roman wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Die häufigen Wechsel, oft auch Rückblicke in die Kindheit der Hyazinthenschwestern, und die zahlreichen vagen Hinweise auf Geheimnisse fordern die Leserin zuweilen heraus. Lange bleibt sie im Ungewissen, welche Schuld denn Alba auf sich geladen hat. Schaffen es die Erbpächterinnen mit oder ohne Akazien (Akazie gleich Geschwisterliebe), die Streitereien zu beenden?
Übrigens gibt es etliche Romane, in denen die Blumensprache der rote Faden durch die Lektüre ist. Das wäre vielleicht ein interessantes Thema für einen weiteren Post…
Rebekka Eder:
Hyazinthenschwestern
Rowohlt Verlag, 2024
Alle in diesem Beitrag erwähnten Bücher habe ich selber gekauft. Ich bin niemandem gegenüber in irgendeiner Weise verpflichtet und generiere keine Einnahmen aus den im Sofagarten vorgestellten Büchern.