Im Bekanntenkreis der Gartenjournalistin Alice Vincent wird eine Familie um die andere gegründet, während sie selber mit Anfang dreissig unentschlossen ist, wie ihre eigene berufliche und private Zukunft aussehen soll. Mit ihrem Partner ist sie gerade in eine Wohnung mit Garten gezogen. Es ist ihr erster eigener Garten, aber sie hat sechs Jahre Erfahrung als Balkongärtnerin.
Alice Vincent treibt sowohl beruflich als privat die Frage um, warum Frauen mit vollgepackten Kalendern und mehr als genug Verpflichtungen sich die Gartenarbeit antun. Auf der Suche nach Antworten nutzt sie die Reichweiten der sozialen Medien, um Gärtnerinnen aufzuspüren, die bereit sind, sich mit ihr zu unterhalten, über welche Wege sie zum Gärtnern gefunden haben und was ihnen der direkte Kontakt mit der Erde und Natur bedeutet. Die Autorin trifft eine Auswahl aus der grossen Zahl an Rückmeldungen und verabredet sich mit etlichen Frauen, die übers ganze Königreich verteilt Blumen und Gemüse anbauen, die einen beruflich, andere als Ausgleich zum Alltag oder weil Lebensmittel aus der eigenen Ernte viel besser schmecken.
Von ihre Gesprächspartnerinnen erhofft sich Vincent nicht nur Denkanstösse zum Gärtnern, sondern auch Antworten auf ihre Gedanken und Ängste ihr eigenes Leben und die eventuelle Gründung einer Familie betreffend. Sie hat grossen Respekt vor der Verantwortung für ein Kind, fürchtet sich vor dem Verlust von gewohnten Freiheiten durch das Muttersein und setzt sich mit ihren Zweifeln über die Vereinbarkeit von Kindern mit ihren anderen Lebensträumen auseinander.
Vincent ist überwältigt von der Offenheit, mit welcher ihr die Gärtnerinnen ihre nicht immer geradlinig verlaufenden Lebensläufe anvertrauen und über das damit verbundene Vertrauen in sie. Verschiedene Interviews entpuppen sich als Intensivlehrgang für Mutterschaft und die Fragestellerin erhält Impulse zu Möglichkeiten, wie sich berufliche und familiäre Verpflichtungen mit Gärtnern vereinbaren lassen. Die Autorin erfährt immer wieder, dass gerade aus dem Kontakt mit der Natur, dem Draussensein im Garten verbunden mit den körperlichen Tätigkeiten und den Auseinandersetzungen mit den Widrigkeiten von Wetter und Schädlingen und selbstverständlich auch aus Ernteerfolgen Kraft für die Herausforderungen des Lebens drinnen in den vier Wänden geschöpft werden kann, seien dies Probleme mit der Wohnsituation, Aufenthaltsbewilligung, im Job, bei der Stellensuche oder in der Familie.
Verstorbene werden der Erde anvertraut, für Neugeborene wird ein Baum gepflanzt. Welche Verbindungen zur Natur hat der Mensch dazwischen? Wo und wie findet er seine eigenen Wurzeln? Während der Recherchen für dieses Buch erfährt die Autorin von manchen Traumata und wie gärtnern heilen kann. Nebenbei erfährt die Autorin auch, dass ihre eigenen grünen Gene nicht von dort stammen, wo sie diese immer vermutet hat. Alice Vincent ist es auch wichtig zu ergründen, weshalb während Jahrhunderten das Pflanzenwissen von weisen Kräutergärtnerinnen respektiert war, aber quasi wertlos wurde, als es (von Männern) schriftlich festgehalten worden ist.
Andere Kapitel widmen sich der aus heutiger Sicht als problematisch gewerteten britischen Kolonialvergangenheit, auf der die englische Pflanzenwissenschaft basiert. Stichworte dazu sind Pflanzenjäger, Plünderung sowie bewusste und unbewusste rassistische Denkmuster. Typisch englisch ist die sympathische Stelle im Buch, in der von den Kindern einer Gesprächspartnerin die Rede ist, welche darüber streiten, wer Monty Don sein darf. Und wer überlegt sich beim Kauf von frischen Blumen aus Holland und Kenia, welche Mengen CO2 dafür ausgestossen worden sind? Und dass diese Umweltbelastung enorm reduziert werden kann, wenn bunte Sträusse für das kurzfristige Aufhübschen der Wohnung bei Blumenfarmen oder anderen Produzenten gekauft werden, die lokal anbauen und nur saisonale Ware verwenden.
Natürlich geben die im Buch vereinten Gärtnerinnen auch generös Ableger für den neuen Garten der Autorin ab und sind grosszügig mit Gartentipps. Denn Gärtner gegen gerne Tipps, auch ungefragt. Ist die Ästhetik des Gartens wichtiger oder möglichst viele grosse rote Tomaten ernten zu können oder ist vielleicht auch beides zusammen möglich? Nur wenige Frauen entschuldigen sich beim Gartenbesuch nicht für den aktuellen Zustand ihres Flecken Erde, der gerade vor ein paar Tagen viel besser ausgesehen hat oder in einer Woche viel besser aussehen wird und sind mit weniger als Perfektion glücklich. Vincent stellt fest, dass glückliches Chaosgärtnern und das Entdecken und Ausprobieren von Kuriositäten eher ihrem eigenen Wesen entspricht und sie grün über alles liebt. Grün in vielen Variationen, und nicht immer müssen buten Blumen dabei sein.
Wie ich beim Verfassen dieser Zeilen festgestellt habe, hat die Autorin ihre Balkongärtnern-Erfahrungen und wie ihr dieser «grünen Weg» durch eine schwierige Zeit geholfen hat, bereits in einem früheren Buch festgehalten, das auch auf Deutsch erschienen ist. ist («Grosssstadtgewächs: Wie mir mein kleiner Garten aus der Lebenskrise half» / englischer Titel «Rootbound»). Gemäss dessen Inhaltsbeschreibung überschneidet sich dessen Inhalt mit dem von «Why Women grow», letzteres fokussiert sich aber mehr auf die Lebenswege anderer Frauen.
Etwa in der Mitte der Lektüre von «Why Women grow» kam ich auf die Idee, im Internet nachzuschauen, ob die Autorin einen Instagram-Account betreibt. Was ich dort inzwischen mitbekommen habe, hat meine vorläufigen Vorstellungen zum Fazit des hier vorgestellten Buches ziemlich durcheinandergebracht, deswegen verzichte ich hier aufs Spoilern.
Alice Vincent:
Why Women grow – Stories of Soil, Sisterhood and Survival
Canongate Books, 2023
Alle in diesem Beitrag erwähnten Bücher habe ich selber gekauft. Ich bin niemandem gegenüber in irgendeiner Weise verpflichtet und generiere keine Einnahmen aus den im Sofagarten vorgestellten Büchern.