Das Mauerblümchen aus dem Buchtitel ist kein Sempervivum (Hauswurz) oder Saxifraga (Steinbrech), sondern eine junge Frau, die ihren farbenfrohen Garten über alles liebt. Auf der Wiese dürfen Gänseblümchen und Löwenzahn um die Wette blühen, während die Besitzerin Friederike an ihren Romanen schreibt und den Texten herumfeilt. Sie gärtnert gern, noch mehr aber liebt sie das Gefühl von Sicherheit innerhalb des Holzzauns, der ab und an von Mäuerchen unterbrochen wird und an dem die eine oder andere Latte fehlt. Der einzige Nachbar, der ihre sichtbaren und unsichtbaren selbst gesetzten Grenzen überschreiten darf, ist der Endsiebziger Gottfried, der im Haus nebenan lebt.
Das Lesetempo kann nur schwer gedrosselt werden, denn die neugierige Leserin will rasch erfahren, wieso eine solch sensible und humorvolle Mittdreissigerin dazu kommt, Begegnungen mit der Umwelt wann immer möglich zu vermeiden und dennoch glaubt, ihr fehle rein gar nichts in ihrer selbst gewählten Isolation. Friederike ist finanziell unabhängig und verfasst unter einem Pseudonym erfolgreiche Bücher, aber mit Ausnahme einer guten Bekannten weiss niemand aus ihrem Umfeld darüber Bescheid. Es muss also nicht extra erwähnt werden, dass der Absatz von Friederikes oder eben Larissa Greens Büchern nicht mit Lesungen und Signierstunden gefördert wird.
Dieser aussergewöhnlich berührende Roman erzählt in Ich-Form wie Friederike schon im Schulalter ein völlig verzerrtes Bild von sich entwickelt hat und dieses nach Jahrzehnten noch aufrecht erhält, obwohl sie längst nicht mehr übergewichtig und eine überaus attraktive Frau ist. Zu ihrem Selbstschutz hat sie eine hohe Mauer um ihr Herz gebaut. Ihre Eltern haben sie als ältere von zwei Töchtern durch den ihr aufgedrängten Stil jahrelangem Mobbing von Schulkameraden ausgesetzt. Die elterlichen Vorschriften fingen bei längst nicht mehr modernen Haarzöpfen und gestrickten Pullovern an und hörten nicht beim ungeliebten Instrument Geige auf. Die miesen zwischenmenschlichen Erfahrungen aus der Jugend prägen immer noch ihr Selbstverständnis.
Lange stand das zweite Nachbarhaus leer. Als dort wieder jemand einzieht, bringt dies Friederikes strukturiertes, in sozialen Kontakten völlig ungeübtes Einsiedlerleben gehörig durcheinander. Und statt wie gewohnt flüssig an ihrem aktuellen Manuskript schreiben zu können, kreisen ihre Gedanken hauptsächlich darum, wie sie den Kontakt mit dem neuen alleinstehenden Nachbarn vermeiden kann. Ganz schwierig wird es, als sie plötzlich Gefühle entwickelt, die sie gar nicht kennt. Und dann sind da noch ihre reizenden Nichten und ihre direkten Kindermünder, die plötzliche nicht mehr mit Eis aus dem Tiefkühler zufrieden sind und lieber in die Eisdiele wollen.
Erst zaghaft, dann etwas mutiger wagt sich Friederike aus ihrer Isolation heraus. Natürlich gibt es Rückschläge. Aber bald lernt die junge Frau zu unterscheiden zwischen Lachen und Ausgelacht werden und die innere Mauer beginnt zu bröckeln und immer mehr Steine werden unnötig. Ach ja, auch in diesem Roman gibt es eine Maisie. Diesmal handelt es sich um einen Vierbeiner.
Dieses Buch hatte ich mal auf den E-Reader heruntergeladen, die Lektüre aber immer wieder vertagt. Mit ein Grund dafür war das Umschlagbild. Aufgrund von Cover und Buchtitel hatte ich Vorurteile gegenüber dem Inhalt. Tatsächlich hat sich dahinter ein wunderbarer Schreibstil verborgen und authentische Charaktere, die zu einer glaubwürdigen Geschichte beitragen und immer wieder zum Nachdenken anregen.
Schokokuss trifft Mauerblümchen
Eigenverlag, 2022
Alle in diesem Beitrag erwähnten Bücher habe ich selber gekauft. Ich bin niemandem gegenüber in irgendeiner Weise verpflichtet und generiere keine Einnahmen aus den im Sofagarten vorgestellten Büchern.