Mit Ausnahme des Kohlweisslings sind in diesem Jahr in meinem Garten deutlich weniger Schmetterlinge als in den Vorjahren anzutreffen. Demgegenüber ist die Schneckenpopulation heuer enorm zahlreich und leider auch entsprechend gefrässig unterwegs. Letzthin habe ich den jeweils in der Dämmerung herumstreunenden Igel fotografiert, wie er an einer Nacktschnecke vorbei läuft, ohne diese eines Blickes zu würdigen. Aber vielleicht hat er sich ja bereits vor dem Fototermin bereits den Bauch mit den Schleimern vollgeschlagen? Jedenfalls fällt es mir in diesem Sommer wieder sehr schwer, den Schnecken etwas Positives abzugewinnen.
Kürzlich ist die Neuauflage des Buches «Das Geräusch einer Schnecke beim Essen» erschienen, das die Sofagärtnerin bei der Lektüre vor über zehn Jahren nachhaltig beeindruckt hat. Selten bleibt mir der Inhalt eines Buches dermassen deutlich präsent. Im Juli 2011 habe ich meine Leseeindrücke wie folgt im Sofagarten online gestellt:
Gärtner sind meistens nicht besonders gut auf Schnecken zu sprechen. In Zeitschriften, Büchern und Gartenforen findet man fast unzählige Tipps, wie man (Nackt-)Schnecken davon abhält, Salat, Hostas und andere ihrer Lieblingsfresspflanzen zu vertilgen. Wie kommt es also dazu, dass eine junge Amerikanerin sich intensiv mit „Hüüsli-Schnägge“ beschäftigt und schliesslich ein Buch darüber schreibt?
Zu diesem Zeitvertreib kam Elisabeth Tova Bailey nicht ganz freiwillig. Die sportliche und aktive Frau erkrankte im Alter von 34 Jahren nach einer Europareise durch einen mysteriösen Erreger schwer und blieb in der Folge für lange Zeit ans Bett gefesselt. Jeder Augenblick fühlte sich an wie eine unendliche Stunde. Die Gedanken kreisten immer wieder um die W-Fragen: warum, was, wann und wie? Und immer wieder wenn sie sich vom Rest der Welt abgeschnitten fühlte, wünschte sie sich, ihren chronisch an Zeitmangel leidenden Freunden von ihrer nutzlosen Zeit abgeben zu können.
Eine Freundin stellt ihr in dieser schweren Phase einen Topf mit einem Ackerstiefmütterchen ans Bett. Zwischen die Blätter hat sie eine gewöhnliche Waldschnecke (Neohelix albolabris) platziert. Elisabeth Tova Bailey freut sich über die etwas ungewöhnliche Aufmerksamkeit und wundert sich gleichzeitig, was sie damit anfangen soll. Im Gegensatz zu den üblichen Mitbringseln aus Schnittblumen, waren die Stiefmütterchen voll Leben. Die bettlägerige Frau, die früher zeitweise als Gärtnerin gearbeitet hatte, freute sich an dem kleinen Stück Garten neben ihrem Bett, das sie mit ihrem Trinkglas bewässern konnte.
Wie still muss ein Raum sein, dass man eine Schnecke fressen hört? In ihrem berührenden Buch „The Sound of a Wild Snail Eating“ (deutsch: «Das Geräusch einer Schnecke beim Essen») erzählt die Autorin wir ihr eben dieses Geräusch das Gefühl von Gesellschaft und gemeinsam geteilten Raum vermittelt. Dank dem Blumentopf samt Bewohner kann sie soweit es ihr eben möglich ist, Verantwortung für ein Lebewesen übernehmen. Der Topf wird bald durch ein artgerechtes Terrarium ersetzt und entspannendes „Snail watching“ lässt die Stunden schneller verstreichen. Parallel zu ihrer Weichtier-Beobachtung beginnt die Patientin sich intensiv mit Schnecken in der Literatur auseinanderzusetzen, was auch Ausdruck im umfangreichen Quellenverzeichnis im Anhang des Buches findet. Elisabeth Tova Bailey entdeckt, dass Schleim nicht nur eklig ist, sondern auch interessant. Und die Amerikanerin findet schliesslich sogar heraus, dass sie wohl die erste Person ist, die ihre Beobachtungen über die Hege und Pflege des Eiergeleges durch eine Schnecke schriftlich festgehalten hat.
Die Schnecke nimmt einen wichtigen Platz im eingeschränkten Leben der Autorin ein. So wichtig, dass sie annähernd panisch reagiert, als sie ihren kriechenden Mitbewohner eines Tages nicht mehr im offenen Terrarium entdecken kann. Während sich diese Sorgen nach dem Auffinden des Ausreissers – er hatte sich für die ans Bett gefesselte Frau unterreichbar versteckt – als unbegründet herausstellen, ist die Autorin auch mehr als fünfzehn Jahre nach ihrer Erkrankung gesundheitlich sehr stark eingeschränkt. Ihre Genesung ist aber soweit fortgeschritten, dass eines Tages der Zeitpunkt kam, an welchem die Schnecken-Beobachtung plötzlich ihre Geduld (über)strapazierte.
Im Rückblick schreibt die Autorin, dass die Schnecke die beste aller Kameradinnen gewesen ist. Sie stellte nie Fragen, die nicht beantwortet werden konnten und stellte keine unerfüllbaren Ansprüche.
Eine sehr eindrückliche Lektüre, die ganz nebenbei viel Interessantes und Wissenswertes über Schnecken vermittelt! Elisabeth Tova Baileys Schnecke ist übrigens samt Nachkommen längst wieder in der Natur freigelassen worden.
Elisabeth Tova Bailey:
The Sound of a Wild Snail Eating
Algonquin Books of Chapel Hill, 2010
Das Geräusch einer Schnecke beim Essen
Piper Verlag, 2023
Alle in diesem Beitrag erwähnten Bücher habe ich selber gekauft. Ich bin niemandem gegenüber in irgendeiner Weise verpflichtet und generiere keine Einnahmen aus den im Sofagarten vorgestellten Büchern.