Lily Marlène, genannt Marlène, ist nicht nur mit ihrem Namen unzufrieden. Die 39jährige Frau hat seinerzeit ihr geliebtes Studium an der Sorbonne in Paris aus familiären Gründen abgebrochen und bald darauf Jean-Louis geheiratet. Die ungewollte Kinderlosigkeit ist nur eine von etlichen Belastungen, unter denen die Beziehung der beiden leidet. Marlènes Leben dümpelt zwischen Arbeit und Verpflichtungen und immer öfter stellt sie sich die Frage, ob sie tatsächlich so weitermachen soll und will. Der zehnjährige Hochzeitstag steht bevor und Jean-Louis lädt seine Frau als Überraschung in ihre Lieblingsstadt ein. Ist in Paris ein Neuanfang für die beiden möglich?
Paris mit Jean-Louis fühlt sich jedoch vom ersten Moment an falsch an. Die unterschiedlichen Interessen der beiden prallen hier mit voller Wucht aufeinander. Als Marlène feststellt, dass der eigentliche Grund für das Wochenende in der französischen Hauptstadt der Besuch einer Automesse ist, bricht ein weiterer heftiger Streit aus und die beiden verbringen den Hochzeitstag getrennt; er mit einer anderen Frau an der Messe, sie im Museum.
Im Raum mit Malerei aus der Vorkriegszeit des Musée d’Orsay glaubt Marlène unvermittelt, vor einem Spiegel zu stehen. Auf einem Gemälde ist eine Frau zu sehen, die ihr wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Sogar der Leberfleck ist am gleichen Ort. Die zufällige Entdeckung wühlt sie auf. Während sie überlegt, wer die Frau sein könnte und dass sie eine Vorfahrin väterlicherseits sein muss, wird Marlène von einem anderen Museumsbesucher angesprochen, dem die frappante Ähnlichkeit zwischen ihr und dem Bild ebenfalls aufgefallen ist. Er stellt sich als Auktionator Etienne Viardet vor und lädt sie ein, in seinem Büro nach Informationen über den Maler und das Modell zu suchen. Und Marlène geht ganz spontan mit.
Ende der 20er Jahre im letzten Jahrhundert ist eine andere Frau mit ihrem Leben unzufrieden. Die siebzehnjährige Vianne träumt davon Botanikerin zu werden. Ihre Leidenschaft gehört Blüten, Knospen, Blättern und Wurzeln. Auf unzähligen Streifzügen durch die Umgebung ihres Heimatdorfes hat sie sich ein beeindruckendes Wissen angeeignet. Sie fertigt botanische Zeichnungen an und hat ein eigenes Herbarium angelegt. Doch für eine junge Frau schickt es sich nicht, mit der Botanisiertrommel Wald und Wiesen zu erkunden. Vianne mag sich aber nicht weiter einengen lassen und ständig rechtfertigen müssen. Sie verlässt heimlich ihre Familie, um in Paris ihr Glück zu suchen.
Ihr erster von vielen weiteren Besuchen im botanischen Garten ist ein prägendes Erlebnis. Sie ist tief beeindruckt von den zu Alleen geschnittene Hecken und den Wintergärten mit verschiedenen Klimazonen, aber ins Innere des Instituts schafft sie es nicht. Vorläufig. Sie arbeitet seit rund zwei Jahren hart als Wäscherin, als sich durch einen Zufall ihr Traum, in einem botanischen Garten zu arbeiten, tatsächlich erfüllt – sie ergattert eine Stelle als Assistentin im Jardin des Plantes. Ihr Tätigkeitsgebiet umfasst alles, was sonst keiner macht, wozu Katalogisieren, Pflanzen vorbereiten, Briefe schreiben und das Labor reinigen gehören.
Privat verliebt sie sich in den englischen Maler David, dem sie häufig Model steht, und sie verkehrt in den Pariser Künstlerkreisen. Der Ausbruch des zweiten Weltkriegs und die Besatzung Frankreichs durch die Deutschen stellt Viannes Leben auf den Kopf. David hat in seine Heimat zurückkehren müssen und die geborene Kämpferin schliesst sich der Résistence an.
Die Erzählung wechselt zwischen zwei Ebenen und verknüpft historische Elemente mit Fiktion. Die Entdeckung ihrer unbekannten Vorfahrin holt in Marlène die längst vergessene Freude am Recherchieren wieder an die Oberfläche. Von ihrem Vater erhält sie einige wenige Hinweise und beginnt ihre Suche in Kirchenarchiven. Doch nicht nur das Rätsel um die Herkunft der geheimnisvollen Frau auf dem Bild beschäftigt Marlène. Die Begegnung mit dem kultivierten, verwitweten Etienne, der ganz offensichtlich um sie wirbt, veranlasst sie, endlich ganz konkret darüber nachzudenken, auf ihrem Lebensweg eine andere Richtung einzuschlagen.
Caroline Bernard:
Rendezvous im Café de Flore
Aufbau Verlag, 2016