Brigitte Janson: Winterapfelgarten

Nach über dreissig Jahren im gleichen Betrieb darf die einundfünfzigjährige Parfümerieverkäuferin Claudia von einem Tag auf den anderen keine Kundinnen mehr bedienen, obwohl sie die umsatzstärkste Mitarbeiterin ist. Der interne Stellenwechsel ist neben der Altersdiskiminierung mit einer empfindlichen Lohnkürzung verbunden. Claudia beendet spontan ihr Arbeitsverhältnis zwischen edlen Düften und Wunder versprechenden Crèmetiegeln, indem sie selber fristlos kündigt. Als sie sich noch etwas benommen von den Ereignissen mitten in Hamburg auf eine Bank setzt, liegt dort ein  gelbgrüner Apfel. Die gepflegte Frau veranschlagt den Kalorienwert und beisst hinein. Schon der erste Biss weckt Erinnerungen an ihre Kindheit, an Omas Obstgarten mit Äpfel-, Birnen – und Pflaumenbäumen und sie möchte unbedingt herausfinden, um welche Sorte es sich handelt. Aber auch als sie nur noch das Gehäuse in der Hand hält, fällt ihr nicht ein, woher sie diese Apfelsorte kennt.

Doch eigentlich hat Claudia genügend andere Probleme als über Apfelsorten nachzugrübeln. Sie ist auf Abruf mit einem italienischen Geschäftsmann liiert – führt also eine nicht ganz einfache Fernbeziehung. Ausserdem plagt sie permanent ein schlechtes Gewissen ihrer vierundzwanzigjährigen Tochter Jule gegenüber, die seit einem schweren Reitunfall ein verkürztes Bein und ständige Schmerzen hat. Claudia, die als alleinerziehende Mutter ihre Leben immer im Griff zu haben glaubte, schafft es einfach nicht, ihrer Tochter neuen Lebensmut zu geben.

Um auf andere Gedanken zu kommen, überredet Claudia ihre Freundin Sara zu einem Ausflug ins Alte Land und entdeckt einen völlig heruntergekommenen Bauernhof mit zugehörigem alten Apfelgarten, der zu verkaufen ist. Ungeschnittene Bäume, Schlaglöcher, ein eingebrochenes Dach, blinde Fenster und Risse im Mauerwerk können sie nicht abschrecken. In einer weiteren spontanen Bauchentscheidung entscheidet sie sich, eine kleine Erbschaft für den Kauf des solide gebauten Hauses samt Apfelgarten einzusetzen.

Sie weiss inzwischen auch, dass es sich beim Kindheitserinnerungen weckenden Apfel um den Winterglockenapfel handelt, eine alte grüngelbe, säuerlich-erfrischend schmeckende Sorte, die nicht mehr angebaut wird, nach dem Pflücken im Oktober erst gelagert werden muss und erst ab Dezember geniessbar ist. Lassen sich hier ihre geheimen Träume von selber produzierter Naturkosmetik mit Äpfeln und Kräutern verwirklichen und wäre hier vielleicht sogar ein Neuanfang für Jule möglich? Der ehemalige angehende Star im deutschen Dressurreiten sieht nämlich keine lohnenswerte Zukunft mehr, hat die Physiotherapie abgebrochen und wird immer verbitterter. Was Jule beschäftigt, ist die Rettung des unfallverursachenden Pferdes Carina vor dem Schlachthof. Aber sie kriegt ja schon ihr verändertes Leben nicht auf die Reihe. Wie soll sie da einem Pferd helfen, das seine Leistung nicht mehr bringt?

Zusammen mit der frisch geschiedenen Sara macht sich Claudia voll Enthusiasmus an die Renovierung des alten Bauernhauses. Nicht alles läuft rund. Da gibt es etwa einen ruppigen Nachbarn, dem Claudia den Apfelgarten vor der Nase weggeschnappt hat und der nicht Müde wird, sie zum Weiterverkauf desselben zu überreden. Sara macht sich im Dorf bei den Frauen unbeliebt, weil sie hemmungslos mit allen einigermassen gut aussehenden Männern flirtet. Sie verdrängt damit ihre Unzufriedenheit, weil sie immer deutlicher merkt, dass sie nicht unschuldig an ihrer gescheiterten Ehe ist.

Mit der seit kurzem nach über vier Jahrzehnten Ehe verwitweten Elisabeth strandet eine gute Seele auf dem Apfelhof. Eigentlich möchte sie die Welt entdecken, doch ihr Auto bleibt schon bald nach dem Start in Hamburg vor Claudias Hof stehen und mit ihren Kochkünsten und ihrem Gespür für zwischenmenschliche Probleme ist sie schon bald unentbehrlich.

Ein einfühlsam geschriebener Frauenroman über vier völlig unterschiedliche Charaktere aus drei Generationen, die auf dem Apfelhof eine unkonventionelle Lebensgemeinschaft bilden, zu der bald auch etliche behinderte Tiere gehören. Natürlich sind Männergeschichten ebenfalls ein Thema, aber man erfährt auch ein wenig über Pomologie und Apfelsorten wie Vierländer Blutapfel, Finkenwerder Herbstprinz und den Altländer Pfannkuchenapfel.

Brigitte Janson: 
Winterapfelgarten 
List Taschenbuch/Ullstein Buchverlage, 2014

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