Der erste Weltkrieg ist seit ein paar Tagen vorbei und die Familie Sanderson wartet ungeduldig auf die Heimkehr des Sohnes und Bruders. Doch ein Telegramm macht alle Vorfreude und Hoffnungen zunichte – Walter ist just in den letzten Kriegstagen gefallen. Die ganze Familie trauert und auch die Rückkehr des künftigen Schwiegersohnes kann den tiefen Schmerz nur bedingt mildern. Besonders hart trifft Eleanor den Verlust ihres geliebten Bruders und sie hadert mit der Tatsache, dass nicht Walter statt der Schwager in spe heimkommen durfte.
Die spontane Eleanor, die häufig handelt ohne erst nachzudenken, ist kaum den Kinderschuhen entwachsen. Während den Kriegsjahren hat sie sich keine grossen Gedanken über das Leben nach den Feindseligkeiten gemacht. Sie ist einfach davon ausgegangen, dass der Alltag bald wieder so unbeschwert sein werde wie früher. Doch gar nichts ist mehr wie zuvor. Fast jede Familie hat Tote zu beklagen und jene Männer, die den Krieg körperlich mehr oder weniger unversehrt überlebt haben, sind wie ihr Schwager seelisch für immer gezeichnet. Als nach Monaten der Trauer ein neuer Frühling ins Land zieht, schlägt Eleanors Vater vor, sie solle zusammen mit einem angeheuerten Gärtner einen Erinnerungsgarten für den verstorbenen Bruder anlegen.
Die junge Frau hat bis anhin keine hortikulturelle Erfahrung, doch sie findet nicht nur eine Aufgabe, sie freundet sich auch mit Jack, dem jungen Gärtner, an. Die Zeiten und die Ansichten über Sitte und Moral ändern sich, doch auch nach dem Krieg ist eine Freundschaft geschweige denn eine Heirat der Vikarstochter mit einem ungelernten Gärtner gänzlich undenkbar und indiskutabel. Da spielt es auch keine Rolle, wenn Eleanor halt allein bleiben sollte, weil praktisch eine ganze Generation an jungen Männern ausgelöscht worden ist.
Im zweiten Erzählstrang übernimmt die siebenunddreissijährige Marin von einem Tag auf den andern die Verantwortung für ihre fünfzehnjährige Halbschwester Rebecca. Erstere hat zuletzt in Boston gelebt und in der IT-Branche gearbeitet. Nach dem plötzlichen Unfalltod ihres Vaters und dessen zweiter Frau, kehrt sie nach England zurück, um sich um die elternlose Rebecca zu kümmern, die ihr völlig fremd ist. Marins eigene Mutter ist an Krebs gestorben, als sie selber acht Jahre alt war und sie wurde danach von ihrem Vater in ein Internat abgeschoben. Da sie ihm die erzwungene Distanz nie verziehen hat, hat sich der Kontakt schon seit vielen Jahren auf ein Minimum beschränkt. Insofern ist sein Tod keine grosse Änderung in Marins Leben. Doch ihr macht zu schaffen, dass die Unstimmigkeiten zwischen ihr und ihrem Vater nun definitiv nicht mehr aus der Welt zu schaffen sind.
Auf Wunsch von Rebecca ziehen die beiden Halbschwestern ziemlich spontan nach Goswell in West Cumberland, wo sie zusammen im Bouwer House einen Neuanfang wagen wollen. Als sie den verwilderten Garten durchstreifen, entdecken sie eine verschlossene Türe, hinter die sich Marin mit Hilfe des Gärtners Joss Zugang verschaftt. Überreste eines Gebäudes mitten im verlorenen Garten geben ein Rätsel auf. Als Marin zusätzlich auf ein altes Foto stösst, das in eben diesem Gartenteil aufgenommen worden ist und eine junge Frau mit Schmetterling zusammen mit einem Gärtner zeigt, macht sie es sich zur Aufgabe herauszufinden, wer die beiden waren und was es mit dem Gebäude auf sich hatte. Unterstützung findet sie auch hier bei Joss, während sie sich revanchiert, indem sie für dessen kleines Gartenbauunternehmen eine Homepage gestaltet und und mit ihm zusammen einen Blog zu führen beginnt, in dem sie über die Entdeckung und Entwicklung des wiedergefundenen Gartens berichten.
In zwei Erzählsträngen führt Katharine Swartz durch diesen einfühlsamen und alles andere als oberflächlichen Roman. Zwar sind die Zeiten, in denen die Protagonisten leben und gärtnern verschieden, aber die Figuren sind nicht nur örtlich durch etliche Parallelen verbunden. Da sind etwa in beiden Geschichten ungleiche Schwestern sowie Gärtner mit Geheimnissen zu finden und schwere Verluste sind zu verarbeiten. Die Funktion des nicht mehr vorhandenen Gebäudes in der Mitte des verlorenen Gartens entpuppt sich als nette und nicht vorhersehbare Idee der Autorin. Und um das Lesevergnügen perfekt abzurunden, entsprach das Ende des ersten Erzählstrangs erfreulicherweise nicht meinen Erwartungen und Prognosen!
Katharine Swartz:
The Lost Garden
Lion Fiction, 2015
©2012