Kakezuchi, Lata, Kibasami, Shachi, Tebasami – Holzhammer, Hausmesser, Heckenschere, Winde, Baumschere: Während ihrer Lehrzeit in einem japanischen Garten neben der Majuba-Teeplantage in Malaya versucht sich die 1923 geborene Straits-Chinesin Yun Ling Anfang der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts die Namen der alten Werkzeuge einzuprägen, die alle einem bestimmten Zweck dienen.
Mit ihren beiden Geschwistern ist Yun Ling in einer kolonial geprägten Gesellschaft aufgewachsen. Die Kindheit wurde durch einen Kriegsausbruch abrupt beendet. Gemeinsam mit ihrer drei Jahre älteren Schwester Yun Hong war sie in einem japanischen Internierungslager gefangen und hat als einzige überlebt. Die vielen Monate in Gefangenschaft haben die beiden jungen Frauen nur ertragen, weil sie sich in die in ihren Köpfen geschaffenen und für andere unsichtbaren und unzugänglichen Gärten geflüchtet haben. Die chinesische Familie Teoh war einst auf Einladung der dortigen Regierung in Japan, weil diese dem Vater Gummiprodukte abkaufen wollte. Bei dieser Gelegenheit hatten die Schwestern die japanischen Gärten für sich entdeckt und ganz besonders Yun Hong hat eine immense Faszination für diese entwickelt.
Im Gedenken an ihre tote Schwester will Yun Ling unbedingt einen japanischen Garten anlegen lassen. Doch der angefragte Aritomo, ein (ehemaliger) Gärtner des (japanischen) Kaisers hat ihre Anfrage abgelehnt und ihr stattdessen angeboten, sie persönlich in die japanische Gartenkunst einzuführen, damit sie den Erinnerungsgarten selber gestalten kann. So findet sie sich also schwere Arbeiten verrichtend in einem japanischen Garten wieder und wird dabei immer wieder unvermittelt an ihre Gefangenschaft erinnert. Yun Ling wird nicht nur durch praktische Tätigkeit in die Gartenkunst eingeführt, sie erhält auch Zugang zur ältesten Sammlung von Schriften über japanische Gärten. Sie selber darf aber keine Notizen machen. Der Garten behält laut Aritomo alles für sie in Erinnerung.
In einem weiteren Erzählstrang erfährt die angesehene Richterin Teoh Yun Ling von einer schweren Krankheit und dass als Folge derselben ihre Erinnerungsfähigkeit schwinden wird. Sie verlässt vorzeitig ihren Richterstuhl am obersten Gerichtshof in Kuala Lumpur und fährt zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder in den Garten der Abendnebel, der nur rund vier Fahrstunden entfernt liegt. Für ihre restliche Lebenszeit nimmt sie sich vor, den Garten wieder herstellen zu lassen und sie beginnt, ihre Erinnerungen niederzuschreiben. Hat der vernachlässigte Garten die Erinnerungen für sie behalten? Unauslöschbar sind die eigenen Narben – sichtbare und unsichtbare und die Wut brodelt latent weiter.
Im Lauf der Erzählung entschlüsseln sich der Leserin durch neue Fakten immer mehr Geheimnisse. Doch längst nicht alle, darunter auch das um den rätselhaften Gärtner, werden gelöst. Gartenkunst ist nicht nur Zähmung und Vervollkommnung der Natur, sondern auch eine Form der Täuschung. Letzteres kann auch als Synonym für den Inhalt gesehen werden. So ganz nebenbei erfährt man von der Begründung der Gartenkunst in chinesischen Tempeln, liest über die Persönlichkeit von Steinen und die Prinzipien der geborgten Landschaft (Borgen aus der Ferne, vom Boden, von Wolken, Wind und Regen), die Kunst des Steine Setzens und das dazugehörige Platzieren und Pflegen derselben. Aritomo lehrt die Frau, dass ein Garten den Betrachter im Innersten berühren muss und Teichbesitzer können vielleicht ausprobieren, ob es stimmt, dass zu Bällen geformter Kupferdraht das Algenwachstum hemmt oder verhindert.
Eine sehr eindrückliche traurig-schöne Geschichte, mit welcher der Autor im Kopf der Leserin gewaltige Bilder schafft und gleichzeitig eine Lektüre, deren Genuss ich mir viel zu lange vorenthalten habe, „Der Garten der Abendnebel“ ist nämlich wieder mal ein Buch, das nach dem Kauf in den Tiefen der Regale verschwunden ist, und das erst wieder meine Aufmerksamkeit erregt hat, als es nun in einer deutschen Übersetzung erschienen ist.
Der einfühlsame Roman jongliert mit Widersprüchen und ist kein Buch, das man schnell liest. Im Gegenteil – er verlangt ein langsames, genaues Lesen, damit einem kein Detail entgeht, und zwar allein schon deswegen, weil regelmässig die Zeiten wechseln, ohne dass dies aus Kapitelüberschriften ersichtlich wäre. Neben dem allgegenwärtigen hortikulturellen Hintergrund gibt das Buch Einblick in einen Teil des zweiten Weltkriegs, der mir weniger bekannt ist, und hat mich veranlasst, mich etwas vertiefter mit diesem Thema zu beschäftigen. Wahrlich ein Buchstabenteich, in dem sich das Fischen lohnt! Will heissen, ein Buch, das zu lesen sich unbedingt lohnt. Dieser Ausdruck stammt (leider) nicht von mir. Ich habe ihn letzthin irgendwo gelesen und finde, hier passt er auch hin, obwohl ich mich gerade nicht erinnern kann, ob Kois erwähnt worden sind…
Tan Twan Eng:
Der Garten der Abendnebel
Droemer Verlag, 2015
©2012
Klingt wunderbar!
Habe den Titel sofort notiert und werde das Buch nicht nur mir, sondern auch zwei meiner Lieben schenken.
Der Teich lädt wahrlich zum Fischen ein!
Liebe Grüße
Dani