Sylvia Lott: Die Rose von Darjeeling

Die sogenannte „Rose von Darjeeling“, ein Rhododendron mit duftenden roten Blüten, ist ein richtiges Prachtstück. Doch wenn seine Besitzerin, die sonst überaus grosszügige Kathryn, um Samen oder Ableger gebeten wird, vertröstet sie die Interessenten stets auf einen späteren Zeitpunkt, der nie eintrifft. Experten und Rhododendron-Sammler rätseln immer wieder, um welche Sorte es sich handelt und woher sie wohl stammt. Dies ist ebenfalls eine Frage, auf welche die Besitzerin die Antwort schuldig bleibt. Die Engländerin verbringt während der Blütezeit ihres Lieblings-Rhododendron möglichst viel Zeit auf dem Sessel direkt daneben. Dabei lässt sie ihre Gedanken immer wieder in die Vergangenheit schweifen.

Im April 1930 erwartet die damals neunzehnjährige Kathryn im Teegarten „Geestra Valley“ ungeduldig zwei Deutsche, die auf der Durchreise zu einer Forschungsexpedition ins nahe Sikkim auf der Teeplantage ihres Vaters einen Halt einlegen wollen. Ihr Vater ist der verwitwete britische Teepflanzer Aldous Whitewater, der seit längerem wegen der Weltwirtschaftskrise mit finanziellen Sorgen und gleichzeitig gegen die Angst vor der ungewissen Zukunft kämpft, weil Indien die Unabhängigkeit von der britischen Kolonialmacht anstrebt.

Kathryn hat die Aufgabe, den beiden jungen Deutschen die Gegend zu zeigen. Carl Jonas ist auf der Suche nach Rhododendron, die er für die Zucht und Vermehrung in der heimischen Baumschule verwenden kann. Die bevorzugten Suchobjekte, respektive die Züchtungen daraus, sollen winterhart, blühfreudig, kleinwüchsig und möglichst duftend sein und sie müssen dank attraktiver Wuchsform, spezieller Rinde oder schönen Blättern auch ausserhalb der Blütezeit einen Blickfang darstellen. Carls bester Freund Gustav ter Fehn stammt aus einer Familie, die seit Generationen im Teehandelt tätig ist und verfolgt mit der Asien-Reise den Zweck, neue Handelsbeziehungen aufzubauen. Die beiden Flachländer haben sich gründlich auf die Expedition vorbereitet. Denn da die Blütezeit einiger Wildarten in niedrigen Lagen schon vorbei ist, ist die Gegend um den Zemu-Gletscher am Fuss der höchsten Gebirge der Welt der angestrebte ehrgeizige Zielort.

Als die beiden jungen Männer bereits Richtung Sikkim aufgebrochen sind, erfährt Kathryn zufällig, dass ihr gerade abwesender Vater seit Jahren eine nepalesische Geliebte hat. Die junge Frau fühlt sich verraten, weil sie selber nach dem frühen Tod der Mutter jahrelang von einem Internat ins andere geschoben wurde. Gleichzeitig mit der aufwühlenden Entdeckung spielt ihr der Zufall ein Visum für die Einreise nach Sikkim in die Hände. Ohne einen Gedanken an Schicklichkeit und einen etwaigen Skandal zu verschwenden, packt Kathryn das Nötigste und reitet der Forschungsgruppe hinterher.

Kathryns Plan sieht vor, die Teilnehmer der Expedition nach Grenzübertritt zu überraschen und sich diesen anzuschliessen. Ihre Idee löst keinen freundlichen Empfang, sondern grosse Verärgerung aus. Doch schliesslich kann die junge Britin die beiden Deutschen überzeugen, sie mitzunehmen. Schon in Darjeeling haben beide Männer Gefallen an Kathryn gefunden.

Die stellenweise überaus gefährliche Reise wartet in der Folge nicht nur mit Balanceakten über riesigen Abgründen auf, sondern auch solchen in den zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen den drei jungen Leuten. Die bei Himalayavölkern anscheinend übliche Vielmännerei ist für die Europäer keine Option. Indessen sind drei einer zuviel und die schöne Kameradschaft zwischen den Ammerländern kriegt erste Risse. Zusätzlich wird die zu Melancholie neigende Kathryn in ein Unglück verwickelt, das verdrängte Erinnerungen an den Tod ihrer Mutter und ihres kleines Bruders an die Oberfläche spült. Für welchen der beiden um sie werbenden Deutschen soll sich die verwirrte junge Frau entscheiden? Wie soll sie die Weichen für ihre Zukunft richtig stellen?

Die Auslobung eines grosszügigen Preisgeldes für die erfolgreichste Nachzüchtung eines verloren geglaubten Rhododendrons führt durch einen zweiten Erzählstrang in die Gegenwart. Hier wird das Rätsel um die Verbindungen zwischen den Nachkommen von Kathryn, Carl und Gustav schliesslich aufgelöst und langjährige Familienfehden, deren Ursprung keiner mehr kennt, endlich begraben.

Dieser Roman zählt zu den beeindruckendsten Büchern, die ich letztes Jahr gelesen habe. Die Autorin hat in die über sechshundert Seiten völlig verschiedene Elemente gepackt und zu einer stimmigen und gut durchdachten Erzählung geschnürt: authentische Charaktere, Liebesgeschichten, Weltgeschichte, Teehandel, etwas Übersinnliches (ganz wenig), ein Verbrechen und nicht zuletzt für Gartenfreunde besonders erwähnenswert die detaillierten Schilderungen über die Pflanzenjagd nach Rhododendren, die Züchtung samt geschichtlichen Informationen und den Baumschulbetrieb. Die Geschichte lässt einen auch nach der Lektüre nicht gleich wieder los – Kopfkino vom feinsten! Neugierig wäre ich einzig auf Informationen zur persönlichen Verbindung der Autorin zu Rhododendren.

Sylvia Lott: 
Die Rose von Darjeeling 
Blanvalet, 2013 

Nachtrag aufgrund eines Hinweises der Autorin: die vermissten Informationen finden sich hier.

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