Sieglinde Jasmin, geborene Frahn, ist recht schnell im Urteil über Mitmenschen, aber nicht gehässig. Ihr nach einem Unfall ein leicht entstelltes Gesicht kaschiert sie geschickt mit einer Brille. Sie ist verwitwet und Inhaberin des Obst- und Gemüseladens am Waldrand von Maulheim, einer fiktiven schwäbischen Gemeinde. Der friedliche Ort am Fusse der Berge ist nicht so beschaulich wie es den Anschein macht. Martina Brandl erzählt in diesem Roman, was für Konsequenzen Frau Jasmin auslöst, weil sie an einem Morgen ihren Laden zehn Minuten später als üblich aufschliesst.
Die Obst- und Gemüsekennerin Jasmin verkauft keine Ware ohne sich vorher beim Kunden zu erkundigen, wann er die Produkte verspeisen will und sucht dementsprechend Exemplare aus, die genau zu diesem Zeitpunkt den perfekten Reifegrad aufweisen. Auch mündliche Rezeptvorschläge gehören zu ihrem Service. Ihre Produkte kauft sie jeweils frühmorgens auf dem Grossmarkt. Alles ist frisch und deswegen toleriert sie auch keine Kundenhände, die ihre Früchte und Salate betatschen. Denn schliesslich weiss längst nicht jeder, dass Gemüse harmlos ist, aber Obst verschlagen.
So ganz im geheimen gibt Sieglinde Jasmin ihren Kunden Titulierungen aus der Pflanzenwelt. Frau Kohlrabi hat ein heiteres Gemüt mit friedvollem Kern, während dem Selleriekopf ein käsiges rundes Gesicht mit Falten und Aknenarben eigen ist. Unterstützung im Geschäft erhält die Obsthändlerin seit kurzem von Sebastian, der ihr im Lager hilft. Von ihrem Angestellten weiss sie nicht viel mehr, als dass er in seiner Freizeit botanische Experimente mit Kumquats und Brombeeren durchführt und eigens dafür ein kleines Gewächshaus gebaut hat. Sogenannte Bromquats sind das Ziel seiner Bemühungen. Frau Jasmin ahnt aber nicht, dass Sebastian noch aus einem ganz anderen Grund in Maulheim aufgetaucht ist und auf der Suche nach einem Familienerbstück ist.
Nun, die erwähnten zehn Minuten haben zur Folge, dass sich vor den Obst- und Gemüseauslagen Kunden und Kundinnen kennenlernen, die sich sonst nicht begegnet werden. Da trifft eine lange blonde Frau namens Yvonne, 28 Jahre alt und Literaturübersetzerin, auf einen Kunden, der von allen «Graf» genannt wird. Dieser lädt die kürzlich aus der Grossstadt Zugezogene spontan ein, sich einer sonst geschlossenen Gruppe anzuschliessen, die sich regelmässig zum Schlemmerzirkel trifft, in welchem eigentlich niemand besonders gut kochen kann.
Nicht nur im Laden wird Klatsch und Tratsch gepflegt. Auch bei morgendlichen Schwimmrunden werden Neuigkeiten ausgetauscht. Als der gepflegte Schwimmbadrasen plötzlich seltsame Löcher aufweist, wird das ausgiebig diskutiert und was hat es mit einer wertvollen alten Spieluhr, einem Erbstück mit edelsteinverziertem Deckel und Engelsfigur der Familie Coburg, auf sich?
Die Geschichte wird von einer Fremden in der Ichform erzählt. Diese gibt sich als Kunstkennerin aus und unterbricht den Text immer wieder, um den Leser direkt anzusprechen.
Martina Brandl:
Schwarze Orangen
Scherz Verlag, 2011
©2012